16. Januar 2023 Thema: Allgemein Von Pierre Orthen
Seit dem 24. Februar 2022 ist die Außenpolitik und die sie thematisierende Berichterstattung sehr
stark vom bewaffneten Konflikt zwischen der Ukraine und Russland geprägt. Ein
Themenschwerpunkt der journalistischen Beiträge beschäftigt sich mit Hypothesen zum Kriegsverlauf
und Kriegsende. Während kurz nach Beginn des russischen Angriffs die Mehrheit der
Berichterstatter/-innen noch von einem raschen Sieg der russischen Truppen innerhalb weniger Tage
oder Wochen ausgingen, wurden mit zunehmender Dauer der Kampfhandlungen vielfältigere und
neue Ansätze diskutiert und thematisiert. Das folgende Essay soll einen Überblick über die
verschiedenen Möglichkeiten eines Kriegsendes geben.
Ein häufig skizziertes Ende des Krieges lässt sich wie folgt zusammenfassen: Vertreter/-innen der
russischen und der ukrainischen Seite setzen sich an den Verhandlungstisch und finden eine für beide
Seiten akzeptable (Kompromiss-)Lösung zur Beendigung des Konflikts. Ein Verfechter dieser Theorie
ist zum Beispiel der aus der Schweiz stammende Mathematiker und ehemalige Diplomat Michael
Ambühl. Sein Ansatz basiert auf dem Chicken Game, einem Ansatz aus der Spieltheorie. Dabei wird
davon ausgegangen, dass zwei Fahrzeuge – ausgegangen wird von einer Mutprobe zweier
rivalisierender Gruppen – auf einer Brücke aufeinander zufahren. Die Fahrer/-innen des Fahrzeugs
haben Alternative auszuweichen oder frontal auf das andere Fahrzeug zuzufahren. Der Gewinner
bzw. die Gewinnerin des Spiels ist dabei die Person, die nicht ausweicht, der Verlierer/die Verliererin,
genannt The Chicken, weicht hingegen dem anderen Fahrzeug aus. Falls hingegen keine/-r der
Fahrenden ausweichen würden, verlören beide (vgl. Peyrolón 2019, S. 33). Im Zuge des UkraineKrieges hat Ambühl seinen Ansatz erweitert und nennt sein modifiziertes Spiel Salgina-Game,
benannt nach einer bekannten (und sehr schmalen) Brücke in der Schweiz. Die Fahrenden haben
jetzt nicht mehr die Möglichkeit auf einer schmalen Brücke auszuweichen. Daher bestehen nun drei
Möglichkeiten: Würde eine/-r der Fahrenden ausweichen, stürzte er von der Brücke in den Tod.
Alternativ könnte man versuchen, das Gegenüber auf die andere Seite der Brücke zu drängen oder –
darauf zielt die Theorie ab – man beginnt mit Verhandlungen. Diese würden dann begonnen, wenn
das Ergebnis für beide Parteien ein besseres Outcome als das Aufeinanderzufahren auf der Brücke
ergäben. Bezogen auf die Ukraine würde das bedeuten, dass innere oder äußere Einflüsse (im
konkreten Beispiel (weitere) militärische Unterstützung für die Ukraine und (weitere)
Strafmaßnahmen gegen Russland) für die Parteien ein Friedensabkommen durch Verhandlungen
attraktiver als ein Fortführen des Krieges wären. Allerdings müsste ein Bruch des Abkommens
drakonisch bestraft werden, sodass ein solcher für eine Vertragspartei unattraktiv würde (vgl.
Neuhaus 2022, o. S.). Allerdings birgt das Verhandeln selbst Risiken für beide Seiten. Die Hamburger
Friedensforscherin Ursula Schröder betont, dass Russland bzw. die Ukraine Verhandlungen auch dazu
missbrauchen könnten, den Krieg „einzufrieren“, um später wieder anzugreifen. Zugleich würde ein
solches Vorgehen auch bedeuten, dass die Ukrainer/-innen auf russische Forderungen nach
Gebietsabtretungen nachkommen müssten und das eigentliche Ziel nach Wahrung der territorialen
Integrität nicht erreichen könnten (DLF 2022, o. S.).
Allerdings wären Verhandlungen für Russland zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls unattraktiv, wie der
ehemalige us-amerikanische Diplomat in der Russischen Föderation, Michael McFaul, auf Twitter
betont hat: „Putin does not want to negotiate right now. He wants to conquer the 4 territories of
Ukraine he annexed on paper in a ceremony at the Kremlin. Until he is stopped on the battlefield,
Putin will not end his invasion. These are the tragic real facts.“ (Twitter-Account Michael McFaul, 25.
Oktober 2022).
Dieses Zitat verdeutlicht die Paradoxie einer Verhandlungslösung, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt:
Verhandlungen wären für die ukrainische Seite nur dann attraktiver als eine Fortführung des Krieges,
wenn sich die russischen Truppen mindestens hinter die Frontlinie des 24. Februars 2022 zurückzöge.
Die Führung der Russischen Föderation hat hingegen zum Ziel, zumindest Teile der Ukraine dauerhaft
zu kontrollieren oder in das eigene Staatsgebiet zu integrieren, wie die Annexionen in der Ostukraine
verdeutlicht haben. Zusammengefasst lässt sich also sagen: Das erklärte ukrainische Ziel nach
Rückzug der russischen Truppen und das russische Ziel nach Erweiterung des eigenen Territoriums –
das geht nicht zusammen.
Wie bereits zu Beginn betont – bei Kriegsbeginn gingen viele Militärexpert/-innen und internationale
Beobachter/-innen davon aus, dass ein russischer Sieg nur eine Frage der Zeit wäre. Aber auch im
Laufe des Kriegsgeschehens, beispielsweise im Zuge russischer Geländegewinne in der Ostukraine,
mehrten sich die Stimmen derjenigen, die eine ukrainische Niederlage nur als Frage der Zeit ansahen.
Einige sehen einen Sieg oder zumindest einen Teilsieg der russischen Streitkräfte trotz der
Geländeverluste der letzten Wochen als sehr wahrscheinlich an. Der Politikwissenschaftler George
Friedmann führt aus, dass sich Putin eine militärische Niederlage nicht leisten könne, zu sehr sei sein
eigenes Schicksal mit dem Ausgang des Krieges verbunden. Dies könne durch Druck auf die
westlichen Alliierten der Ukraine, zum Beispiel durch Probleme in Europa aufgrund der stark
verringerten Energielieferungen aus Russland, oder durch Unterstützung des wichtigsten russischen
Verbündeten Chinas geschehen, wobei laut Friedmann eine personelle Aufstockung der russischen
Streitkräfte in der Ukraine die wahrscheinlichste Lösung sei (vgl. Cicero 2022, o.S.). Darüber hinaus
hat Russland einen weiteren Trumpf im Ärmel, den es bei einer drohenden Niederlage auf dem
Schlachtfeld einsetzen könnte – und zwar sein circa 6000 Sprengköpfe umfassendes AtomwaffenArsenal. Wie jüngst bekanntwurde, diskutierten die führenden russischen Militärs die Möglichkeit
eines Nuklearwaffeneinsatzes, sollten die Kriegsziele nicht mit konventionellen Mitteln erreicht
werden können (vgl. New York Times 2022, o.S.). Als Einsatzmöglichkeiten einer solchen Atombombe
werden von westlichen Militärfachleuten zum Beispiel der Test einer Kernwaffe auf russischen
Staatsgebiet oder das Zünden über unbewohntem Gebiet diskutiert (vgl. tagesschau 2022, o.S.)
beziehungsweise alternativ ein Abwurf einer taktischen Atomwaffe mit vergleichsweise geringer
Sprengkraft über einer ukrainischen Großstadt (vgl. Marti 2022, o.S.). Allerdings wäre eine nukleare
Eskalation mit großen Risiken verbunden – nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland und
insbesondere für Wladimir Putin. Es wird nämlich darüber gemutmaßt, dass ein solcher Schritt dazu
führen würde, dass die NATO und in vorderster Front die Vereinigten Staaten von Amerika eigene
Truppen in der Ukraine einsetzen könnten und darüber hinaus kritische militärische Infrastruktur der
Russen zerstören könnten, zum Beispiel die auf der Krim stationierte Schwarzmeerflotte (Business
Insider 2022, o.S.). Dennoch muss ein solches Szenario als realistisch eingestuft werden. Die russische
Nuklearwaffendoktrin wird häufig als „Eskalation zur Deeskalation“ beschrieben. Soll heißen: Ein
atomarer Einsatz könnte dazu dienen, den Krieg zu beenden, wenn konventionelle Waffen nicht
mehr ausreichen. Ansätze, die darauf hindeuten, gab bzw. gibt es sowohl in der Vergangenheit als
auch in der Gegenwart. In der militärischen Doktrin der Russen aus dem Jahre 2000 wurde
beispielsweise eine nukleare Antwort auf konventionelle Angriffe explizit nicht ausgeschlossen.
Dieses recht niederschwellige Eskalationsniveau lässt sich darauf zurückführen, dass Russland in der
Post-Sowjetunion-Zeit unter einem Mangel an modernem militärischen Gerät litt und deshalb, zur
Aufrechterhaltung der eigenen Fähigkeiten zur Abschreckung, in der Militärdoktrin verstärkt auf
Atomwaffen setzte. Zwar wurden in den letzten Jahren viele moderne Waffensysteme eingeführt,
diese sind jedoch mittlerweile im Ukraine-Krieg vielfach zerstört oder nicht mehr in ausreichender
Zahl verfügbar, was für eine stärkere Rückbesinnung auf das militärische Leitbild zu Beginn des
Jahrtausends sprechen könnte (vgl. Wachs 2022, S. 2 ff.).
Der aktuelle Kriegsverlauf lässt aber ein anderes Szenario noch wahrscheinlicher als einen russischen
Atomwaffeneinsatz erscheinen – und zwar das Szenario eines Sieges der ukrainischen Streitkräfte.
Dafür spricht, wie oben bereits angedeutet, der mittlerweile vorherrschende Mangel der Russen an
modernem militärischen Gerät. Darüber hinaus gibt es weitere organisatorische Mängel in den
russischen Verbänden, die mittlerweile offen zu Tage treten, beispielsweise das Fehlen einer
größeren Zahl gut ausgebildeter Unteroffiziere, die für die Instandhaltung und den zweckgemäßen
Einsatz von Panzern und weiteren Fahrzeugen verantwortlich sind – all das lässt sich aktuell nicht
beobachten. Ebenso fehlt den russischen Truppen eine zweckgemäße Taktik, wodurch deutlich
weniger russische Soldat/-innen verwundet oder verstorben wären (vgl. Cohen 2022, o.S.). Zu guter
Letzt haben die ukrainischen Einheiten in großer Stückzahl modernes Kriegsgerät aus dem Westen
erhalten und in der vergangenen Zeit große Geländegewinne in der Ostukraine erzielen können. Dass
die militärischen Ziele der Ukraine nicht das bloße Verteidigen der noch oder wieder kontrollierten
Gebiete sind, wird von der politischen Führung um Präsident Wolodymyr Selenskyi regelmäßig
betont. Im August sagte er beispielsweise, dass ein Sieg über Russland primär nicht am
Verhandlungstisch, sondern auf dem Schlachtfeld erzielt werden müsse – eine Rückeroberung der
bereits 2014 von moskautreuen Separatisten besetzten ukrainischen Gebiete einschließlich der Krim
schloss er dabei explizit nicht aus (vgl. Berliner Zeitung1 2022, o.S.).
Interessant zu diskutieren ist außerdem, welche Konsequenzen politischer Natur ein weiteres
Vorrücken der ukrainischen Streitkräfte und eine möglicherweise bevorstehende Rückeroberung der
aus Sicht der russischen Führung historisch und ideologisch bedeutsamen Halbinsel Krim hätte. Zwar
scheint Russlands Präsident Wladimir Putin trotz mancher anderslautender Äußerungen bisher noch
recht sicher im Sattel zu sitzen, fraglich ist allerdings, ob bei der oben beschriebenen Entwicklung
seine Machtbasis nicht vergleichsweise schnell erodieren würde. Um das einordnen zu können ist ein
Blick in Putins berufliche und politische Biographie notwendig. Der heutige Präsident war nämlich zu
Zeiten der Sowjetunion lange Jahre KGB-Agent und in dieser Funktion unter anderem in Dresden
stationiert. Darüber hinaus wurde er, schon nach dem Ende der UdSSR, Direktor des „Föderalen
Dienstes zur Sicherheit der Russischen Föderation“ (FSB), also Chef des mächtigen russischen
Inlandsgeheimdienstes. Erst aus dieser Position heraus war es ihm, ausgestattet mit politischen
Erfahrungen als Mitarbeiter des früheren Bürgermeisters von Sankt Petersburg, Anatoli Sobtschak,
möglich erst Ministerpräsident und später Präsident Russlands zu werden (KOSMOS Welt- Almanach
& Atlas, zitiert nach bpb 2022, o.S.). Putin hat die Zeit in politischen Führungspositionen zwar dafür
genutzt seine politischen Gegner/-innen durch Auftragsmorde oder Inhaftierungen auszuschalten
und das politische Systems stark auf sich zugeschnitten – im vergangenen Jahr wurde durch das
Parlament ein Gesetz verabschiedet, damit Wladimir Putin die Möglichkeit besitzt bis 2036
weiterzuregieren, darüber hinaus wurde beispielsweise durch restriktive Gesetzesvorgaben zur
Berichterstattung über den Ukraine-Krieg, oftmals ist hierbei die Rede von einer „militärischen
Spezialoperation, die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung drastisch beschnitten (vgl. lpb
2022, o.S.) –, dennoch sind die Fundamente seiner Macht immer noch der Geheimdienst und
außerdem das russische Militär und deren Führungen. Zuletzt jedoch konnte man, wenn auch im
Wesentlichen nicht öffentlich, Kritik am Ukraine-Krieg und insbesondere an der Rolle von Präsident
Putin vernehmen. Die ehemalige FSB-Mitarbeiterin Marija Dmitriewa, die mittlerweile verdeckt in
Frankreich lebt, berichtete von zunehmenden Verstimmungen seitens der FSB-Mitarbeiter/-innen.
Laut anderen Äußerungen fühlten sich die FSB-Agent/-innen von Putin verraten, da sie seine
Präsidentschaft erst möglich gemacht hätten und jetzt um ihr Prestige und ihr finanzielles Auskommen aufs Spiel setze (Hoffmann und Korooshy 2022, o.S.). Ein Putsch durch russische
Geheimdienste gegen Putin scheint daher nicht ausgeschlossen, allerdings würde ein solches
Vorgehen auch unkalkulierbare Risiken für die Putschisten selbst mit sich bringen. Sollte in diesem
Falle ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin an die Macht kommen, der bzw. die die Rolle
der Geheimdienste beschneiden möchte, könnten Mitarbeiter/-innen des FSB und anderer Dienste
womöglich selbst juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Fraglich ist auch, ob ein offener
Putsch auch von den Militärs und insbesondere der Bevölkerung mitgetragen würde.
Wahrscheinlicher scheint daher eine risikoärmere Möglichkeit eines Wechsels an der politischen
Spitze, nämlich ein Rückzug von Wladimir Putin – wenn auch nur zeitlich befristet – vom Amt des
Präsidenten zur nächsten Präsidentschaftswahl 2024. Diese Option erscheint auf den ersten Blick
eher unrealistisch im Zuge der kürzlich erfolgten Gesetzesänderung für eine mögliche Präsidentschaft
Putins bis 2036, dennoch sprechen zwei Faktoren für einen baldigen Rückzug des Kreml-Chefs:
Einerseits könnte er sich nämlich nur zeitweise zurückziehen, um die Verantwortung für eine
mögliche militärische (Teil-)Niederlage auf seinen Nachfolger oder seine Nachfolgerin zu verlagern,
andererseits äußern Geheimdienst- und Medienberichte immer wieder Zweifel an Putins
gesundheitlicher Eignung als Präsident.
Abgesehen von einem Putsch oder freiwilligen Rückzug von Wladimir Putin könnte dieses Schicksal
aber auch sein Gegenüber auf ukrainischer Seite, Präsident Selenskyi, ereilen. Vorab: aktuell
erscheint das sehr unrealistisch. Zwar gab es zuletzt vereinzelt Kritik aufgrund seines Vorgehens vor
dem Krieg und während der ersten Tage der russischen Invasion (vgl. Berliner Zeitung 20222
, o.S.),
allerdings gilt Selenskyi innen- und außenpolitisch als entschiedener Kämpfer gegen das vielfach
verhasste Putin’sche Russland und als Garant für eine Pro-europäische Orientierung der Ukraine. Und
auch aus russischer Sicht wäre ein organisierter Putsch gegen den amtierenden Präsidenten
risikobehaftet. Wäre zu Beginn des Krieges ein Wechsel an der Spitze womöglich noch sinnvoll
gewesen, um den militärischen und gesellschaftlichen Widerstand der Ukraine zu brechen, würde
dieses Vorgehen in der Gegenwart vermutlich zum Gegenteil, nämlich zu einem noch ausgeprägteren
Wir-gegen-die-Russen-Gefühl in den Reihen der ukrainischen Bevölkerung und der Streitkräfte
führen.
Prognosen zum Ausgang des Russland-Ukraine-Konflikts gleichen dem Blick in eine Glaskugel.
Dennoch können einige Möglichkeiten als realistischer, andere als weniger realistisch eingestuft
werden. Als aktuell unrealistisch erscheint eine Verhandlungslösung, denn beide Kriegsparteien
wollen nicht von ihrer konträr entgegenstehenden Ziele abweichen. Wahrscheinlicher erscheint ein
Sieg auf dem Schlachtfeld, wobei der aktuelle Kriegsverlauf einen ukrainischen Erfolg deutlich
wahrscheinlicher erscheinen lässt als einen russischen. Allerdings könnte ein Einsatz russischer
Atomwaffen, trotz aller Risiken gibt es hierfür zumindest gewisse Indizien, als Ultima Ratio eine
Niederlage der russischen Streitkräfte verhindern. Zu guter Letzt besteht auch die Möglichkeit eines
Putsches oder freiwilligen Rückzuges des russischen Präsidenten, insbesondere bei weiteren Erfolgen
der ukrainischen Armee.