11. Januar 2023 Thema: Allgemein Von Pierre Orthen
Am 30. Januar 2023 jährt sich die Machtergreifung der Nationalsozialisten zum 90. Mal. Zu diesem Anlass stellt sich mir die Frage: Wie gehen wir mit unserer eigenen Vergangenheit um? Klar sind zwei Dinge: Einerseits gibt es in wenigen Jahren kaum noch Überlebende der NS-Zeit – unsere Erinnerungskultur stellt das vor große Umwälzungen. Andererseits wurde viel Zeit und Aufwand darin investiert, den Werdegang der Größen der NS-Zeit zu erforschen – das Leben der „kleinen Fische“ geriet dabei oft in Vergessenheit. Letzteres hat sich jedoch insbesondere in den letzten Jahren geändert. Im Zuge dieser veränderten geschichtswissenschaftlichen Fokussierung geriet auch auch der schwäbische Heimatdichter August Lämmle aus Ludwigsburg. Wie der Historiker Peter Poguntke bei einer Forschungsarbeit zu Lämmle feststellte, war dieser nicht nur, wie bis dahin angenommen, Mitläufer während der NS-Zeit, sondern Verehrer und aktiver Unterstützer der Nazis. In einem Vorwort schrieb er beispielsweise: „Und da Gott den Mutigen hilft, gab er uns den Führer, den gläubigsten und mutigsten Mann in der Geschichte der Deutschen!“. Poguntke kam daher in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass Lämmle zwar keine führende Rolle im Regime der Nationalsozialisten gespielt habe, aber Adolf Hitler verehrt und die NS-Zeit zum Positiven verklärt habe. Als Reaktion darauf wurden beispielsweise in Leonberg und einigen anderen Städten in der Region Straßen oder Schulen umbenannt oder das zumindest diskutiert. Da auch in Leutenbach eine Straße nach Lämmle stellt sich die Frage: Wie umgehen mit einem einerseits heutzutage immer noch in Teilen der Bevölkerung beliebten Dichter und Autor, der andererseits aber ein glühender Verehrer Adolf Hitlers war? Sicherlich könnte es man sich einfach machen – und einfach nichts machen. Schließlich war Lämmle nicht an Verbrechen der Nazis beteiligt und ebenfalls kein ranghoher NS-Funktionär. Allerdings greift diese Interpretation zu kurz, schließlich ist der politische Erfolg der Nazis vor allem auch auf deren Unterstützung aus großen Teilen der Personen mit exponierter Stellung in der Gesellschaft zurückzuführen. Andererseits könnte man Lämmle auch als Altnazi abstempeln und ihn aus der kollektiven Erinnerung streichen, also in letzter Konsequenz die Straße umbenennen. Allerdings greift auch diese Alternative zu kurz, es soll schließlich nicht darum gehen, August Lämmle zur persona non grata zu erklären, sondern darum eine gesellschaftliche Diskussion anzustoßen, um die Frage zu beantworten, wie ein zeitgemäßes Erinnern aussehen kann. Insofern geht es weniger darum, von oben herab eine konkrete Maßnahme zu bestimmen, sondern vielmehr um Sensibilisierung der Bürger:innen für die Vergangenheit. Welche konkrete Maßnahme man daraus ableitet, ist eher zweitrangig.